Из трудов Ивана Павловича Сусова
I.
P. Sussow
Konventionalistisches
Konzipieren der
Realität sprachlicher Einheiten
Viele
Linguisten fassen heute die sprachlichen Einheiten als diejenigen
einfachsten
Elemente der Sprachstruktur auf, die deren untere Grenze bilden und so
gegensätzliche
Eigenschaften wie relative Selbständigkeit und Bewahrung der
spezifischen
Hauptmerkmale des Sprachphänomens in sich vereinigen. Die relative
Selbständigkeit
bedingt die qualitative und die quantitative Bestimmtheit jeder
gegebenen
Einheit, ihre Identität mit sich selbst und die Abgrenzung von
alien anderen
Einheiten der Sprache. Die Bewahrung der spezifischen Hauptmerkmale des
Sprachphänomens bestimmt Natur und Wesen dieser Erscheinung als
eines Elements,
das gerade der Sprache und nicht irgendeinem anderen komplizierten
Objekt
eigentümlich ist.
Häufig
korreliert der Begriff der Einheit mit dem
sprachlichen Ganzen vermittels einer bestimmten Ebene (eines bestimmten
Ranges) des Sprachsystems, wodurch die Gesamtheit seiner gemeinsamen
und
distinktiven Merkmale adaquat widergespiegelt werden kann [44, 28]
(vgl. auch
Smirnizki, Achmanowa, Klimow, Leontjew, Sussow [46;
18; 25; 51]).
Die Verfechter
dieser Auffassung eint, bei aller
Unterschiedlichkeit in der Interpretation der konkreten Natur der
sprachlichen
Einheiten, die Űberzeugung, daβ diese Erscheinungen real existieren und
die
entsprechenden wissenschaftliehen Begriffe einen objektiven Inhalt
haben.
Neben dieser
Auffassung von der Natur der sprachlichen
Einheiten (man konnte sie als realistische
Konzeption bezeichnen) ist
heute stark die entgegengesetzte Auffassung verbreitet, der zufolge die
sprachliche Einheit ein Denkgebilde des Linguisten, ein logisches
Konstrukt,
ein Element der Sprachtheorie ist. Nicht zufällig spricht Harris
deshalb nicht
von sprachlichen, sondern lieber von linguistischen Einheiten, worunter
er
„rein logische Symbole" versteht, „mit denen verschiedene Operationen
der
mathematischen Logik vorgenommen werden konnen" [73, 18].
Man sagt, die
Hauptmerkmale der Einheit beruhen auf
ihrem Platz im theoretischen System, das auf Grund einer Konvention
(Abmachung) zwischen den Wissenschaftlern einer bestimmten Richtung
üblich ist.
Durch das angenommene linguistische Modell wird auch die Nomenklatur
der aufzustellenden
Einheiten bestimmt. Die Frage nach dem objektiven Inhalt der
sprachlichen
Einheit als eines Denkgebildes wird entweder überhaupt nicht
gestellt oder als
zweitrangig, irrelevant abgetan und je nachdem, ob man die
Möglichkeit einer
empirischen Interpretation des theoretischen Systems überhaupt
zuläβt,
beantwortet. So heiβt es in den „Thesen über die theoretischen
Grundlagen einer
wissenschaftlichen Grammatik", einer Art Manifest Berliner
Strukturalisten: „Ebenso wie der Begriff Neutron eine Einheit der
physikalischen
Theorie ist und auβerhalb ihrer keinen Sinn hat und auf keine
Beobachtungsdaten
bezogen werden kann, ist der Begriff Kasus eine Einheit der Theorie und
hat auβerhalb
der Theorie keine Beziehung auf die Beobachtungsdaten" [90, 10].
Bierwisch
als führender Ideologe dieser Gruppe meinte, daβ Begriffe wie
Elektron oder
Meson nicht auβerhalb der physikalischen Theorie definiert werden
können, und
schrieb: „Das Morphem muβ als Einheit der Sprachtheorie aufgefaβt und
innerhalb
ihrer bestimmt werden" [66, 52].
So kommt es, daβ
Analyseobjekt nicht eine real
existierende Einheit der Sprache, sondern der betreffende Begriff ist.
Der
Zweiebenenbezug des jeweiligen Begriffs — zur objektiven sprachlichen
Realität
und zum linguistischen Modell — wird durch einen Einebenenbezug
ersetzt: In
bezug auf die Einheit der Sprache wird nur gefragt, ob sie in das
linguistische
Modell paβt, sich aus der Theorie ableiten läβt, das theoretische
System keine
inneren, rein logischen Widersprüche enthält. Daraus folgt
eine übertriebene
Beachtung der „inneren", die Struktur der Sprachbeschreibung
bestimmenden
Kriterien (wie Ökonomie, Einfachheit, Kompaktheit) auf Kosten der
Angemessenheit [52].
So wird die Logik
der sprachlichen Realität durch eine
logische Entfaltung der linguistischen Beschreibung ersetzt, die
Beschreibung
einer Sprache, ihr theoretisches Modell mit dem Objekt identifiziert.
Die
Theorie gilt bestenfalls als die Art und Weise, Daten der an sich
chaotischen
Erfahrung zu ordnen. Die Wahl der und der Theorie wird als
Angelegenheit des
Geschmacks oder der Bequemlichkeit hingestellt.
Diese Konzeption,
die die logische Natur der Realität
der sprachlichen Einheiten fetischisiert und deren Inhalt von der
„Konvention" zwischen den Linguisten eines bestimmten Kreises
abhängig
sein läβt, kann man als konventionalistisch
bezeichnen.
Die Verwendung
eines philosophischen Terminus ist
dabei beabsichtigt, berührt doch die Anerkennung bzw. Leugnung der
objektiven
Realität der sprachlichen Einheiten vor allem den philosophischen
(d. h. vorwiegend
erkenntnis-theoretischen und allgemeinmethodologischen) Aspekt des
Problems,
wird nach dem realen Inhalt des Begriffs „sprachliche Einheit", nach
seiner Beziehung zur objektiven sprachlichen Realität gefragt. Den
Forscher
interessiert vor allem, ob die Erscheinung, die wir sprachliche Einheit
nennen,
objektiv existiert oder ob sie logisch konstruiert wird und nur ein
Symbol
darstellt, dessen Interpretation in dem betreffenden
Wissenschaftlerkollektiv
durch „Konvention" gilt.
Nur bei positiver
Beantwortung der ersten Frage kann man sich der Analyse des Problems
der Realität
der sprachlichen Einheiten unter eigentlich linguistischem (d. h.
konkret
wissenschaftlichem, ontologischem) Aspekt zuwenden1, kann
man klären,
in welcher konkreten materiellen Form die sprachlichen Einheiten
existieren, ob
es die Lautschwingungen oder die Bewegungen der Sprechwerkzeuge oder
aber
gewisse neurophysiologische Prozesse in der Groβhirnrinde sind, wie die
Einheiten und das System der Wechselbeziehungen zwischen ihnen in der
jeweiligen Sprache beschaffen sind usw.
1 Dadurch rangiert
die philosophische,
allgemeinmethodologische Stellung des Problems notwendigerweise vor der
ontologischen Analyse. Daraus folgt aber keineswegs, daβ der erste
Aspekt überhaupt
nicht zur Kompetenz des Linguisten gehört, wie man das aus ben
Āuβerungen
einiger Philosophen schlieβen bonnte [17].
Wie wichtig der
ontologische Aspekt für die
Beantwortung der Frage nach der Realität der sprachlichen
Einheiten auch ist,
den Ausschlag gibt der philosophische Aspekt. Davon, wie dieses Problem
gelöst
wird, hängt die Richtung der nachfolgenden Forschung ab. Und
gerade hierdurch
unterscheidet sich die realistisehe Konzeption deutlich von der
konventionalistischen.
Der linguistische
Konventionalismus geht letztlich auf
den philosophischen Konventionalismus zurück. Der Zusammenhang
zwischen der
Sprachwissenschaft und der Philosophie ist bei weitem nicht immer
evident, und
viele Linguisten protestieren zu Recht gegen eine mechanische
Zurückführung der
speziellen Methoden der konkreten Wissenschaften auf allgemeine
philosophische
Prinzipien, gegen eine Identifizierung der Weltanschauung mit dem
konkreten Inhalt
einer bestimmten Sprachtheorie [49]. Man sollte aber auch nicht die
Augen davor
verschlieβen, daβ manche Ideen und Prinzipien eindeutig
übereinstimmen, daβ
gleiche Gedankengänge und schlieβlich direkte Entlehnungen aus
philosophischen
Werken mit Quellenangabe vorliegen.
Solche Analogien
und Entlehnungen sind durchaus
begreiflich, entsteht doch jede Richtung in der Sprachwissenschaft
unter
konkreten historischen Bedingungen, nicht nur aus der Notwendigkeit,
eigentlich
linguistische Aufgaben zu meistern, sondern auch aus den
allgemeinwissenschaftlichen Ansichten und Bestrebungen, die ihren
konzentriertesten
Ausdruck gerade in der Philosophie finden. Jede linguistische Richtung
hängt
nicht nur mit ihrem sprachwissenschaftlichen Erbe, sondern auch mit den
verwandten Richtungen in anderen Disziplinen zusammen. Umgekehrt
können die im
Schoβe der Linguistik geborenen Ideen und Prinzipien wiederum die
allgemeinwissenschaftlichen Tendenzen ihrer Zeit beeinflussen. So
verhielt es
sich z. B. mit der Verbreitung des historisch-vergleichenden und des
strukturalistischen Prinzips auβerhalb der Sprachwissenschaft [12; 35].
Es gibt
keine Linguistik an sich, ohne den Kontext der
allgemeinwissenschaftlichen
Tendenzen und der interdisziplinären Beziehungen. Diese
Zusammenhänge erklären
sich durch die allgemeinen Gesetze des Seins und der Entwicklung aller
Seiten
der materiellen Wirklichkeit, durch die Einheit der objektiven Welt bei
all
ihrer Mannigfaltigkeit.
Man sollte also
die Entstehung und Verbreitung des
linguistisehen Konventionalismus nicht ausschlieβlich dureh die
Schwierigkeiten, die Sprache zu erkennen, und durch die innere Logik
der
Entwicklung der Sprachwissenschaft selbst zu erklären versuchen,
diese Faktoren
aber auch nicht völlig vernachlässigen. Die Analogien
zwischen dem
linguistischen und dem philosophischen Konventionalismus sind durchaus
evident
und ziemlich leicht erkennbar.
Die konkrete
wissenschaftliche Basis des
philosophischen Konventionalismus waren bekanntlich die Erfolge der
mathematischen Modellierung des Verhaltens der nicht unmittelbar
beobachtbaren
Mikroteilchen, wodurch die Krise an der Schwelle zum 20. Jahrhundert in
der
Physik überwunden wurde. Manche Theoretiker zogen daraus
weitreichende Schluβfolgerungen
über ein „Verschwinden der Materie" [78, 258] und über die
„Allmacht"
der Symbole, über die Möglichkeit, sich beim Erkennen der
Welt auf Fiktionen zu
beschränken, die keinen realen Inhalt haben und sich rein formal,
logisch
ableiten lassen, über die freie Wahl der Theorie.
Lenin führte
in seinem Buch „Materialismus und
Empiriokritizismus" gegen diese Ansichten, die den Inhalt des
„physikalischen" Idealismus ausmachen, einen vernichtenden Schlag [78,
305—316].
Der
Neopositivismus, der die logische Analyse der
Sprache der Wissenschaft zu ihrem wichtigsten und sogar einzigen Ziel
erklärte
[68, 52, 279f.; 40; 38; 85; 87], übernahm das konventionalistische
Prinzip.
Hier wurde es zu dem von Carnap formulierten Toleranzprinzip und zu dem
von
Ajdukiewicz aufgestellten Prinzip des radikalen Konventionalismus [68;
62].
Da der
Neopositivismus als „Philosophie der Wissenschaft"
in westlichen Wissenschaftlerkreisen eine gewisse Popularität
genieβt und die
Problematik der Sprachanalyse der eigentlichen linguistischen
Problematik
gewissermaβen gleicht, wurde die konventionalistische Konzeption von
vielen
Sprachwissenschaftlern leichter aufgenommen. Gefordert wurde das auch
durch
die Schwierigkeit, die Sprache als eine ihrer Natur nach äuβerst
komplizierte
Erscheinung der Wirklichkeit zu erkennen, durch die Mehrschichtigkeit
ihrer
Struktur und die Mannigfaltigkeit ihrer Einheiten, wobei in einer
ganzen Reihe
von Momenten keine hinreichend exakten Ūbergange zwischen den Ebenen,
aber auch
zwischen den einzelnen Einheiten bestehen. Einen Einfluβ hatten auch
die
theoretischen Positionen, die in manchen Richtungen der
Sprachwissenschaft
herrschten (so beschränkt der Strukturalismus in Westeuropa den
Gegenstand der
Sprachwissenschaft auf das Sprachsystem, faβt er dieses System als eine
reine
Struktur von Korrelationen, als ein Netz von Abhängigkeiten und
die
sprachlichen Einheiten als rein oppositiv, relativ und negativ auf,
reduziert
der amerikanische Strukturalismus den Analysegegenstand auf das in der
unmittelbaren Erfahrung gegebene Sprachmaterial, faβt er das
Sprachsystem als
das Klassifikationsschema auf, das der an sich ungeordneten
sprachlichen
Erfahrung auferlegt wird). Der Konventionalismus konnte in der
Sprachwissenschaft auch deshalb Fuβ fassen, weil sich manche Linguisten
in den
letzten Jahrzehnten stärker fur eine Begründung ihrer
Wissenschaft, für die
Aufstellung einer linguistischen Metatheorie interessieren,
mathematisch-logische Methoden für die Lösung linguistischer
Probleme benutzen,
zu mehr oder minder gleichen praktischen Ergebnissen bei
unterschiedlichen
Untersuchungsverfahren gelangen und schlieβlich ein schreckliches
terminologisches Durcheinander herrscht.
Daraus folgt aber
nicht, daβ sich
mathematisch-logische Methoden in der Sprachwissensehaft nicht anwenden
lieβen,
daβ man die deduktive Methode bei der Gestaltung bestimmter Fragmente
einer
Sprachtheorie ablehnen und die Möglichkeit einer mannigfaltigen
Lösung ein und
desselben linguistischen Problems in Zweifel ziehen sollte. Solche
Behauptungen
waren einseitig.
Die
Mannigfaltigkeit der Methoden und Verfahren zur
Analyse sprachlichen Materials beruht auf der Sprachwirklichkeit, auf
der
Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit der sprachliehen
Einheiten, die
objektiv existieren und damit die Objektivität der Sprache
überhaupt
determinieren, und keineswegs auf einer Billigung des
konventionalistischen Prinzips.
Man kann sogar sagen, daβ der Linguist bei der Analyse des zu
untersuchenden
Materials verschiedene Wege einschlagen darf, diese aber so beschaffen
sein müssen,
daβ sie ihn zu einer angemessenen Erkenntnis führen. Die Freiheit
des
Linguisten ist durch die objektiven Eigenschaften der real
existierenden
Erscheinungen, durch die Notwendigkeit einer richtigen Widerspiegelung
der sprachliehen
Wirklichkeit begrenzt.
Das gestiegene
Interesse für die Probleme, die sich
bei der Aufstellung einer Metatheorie der Sprachwissensehaft ergeben
und die
eine charakteristische Tendenz in der Entwicklung der Wissenschaft der
Gegenwart überhaupt widerspiegeln, ist durchaus legitim. Das
konventionalistische Prinzip führte aber dazu, daβ manche
sprachwissenschaftlichen
Schulen ihre Aufmerksamkeit ausschlieβlich auf Probleme der
Metasprache, der
Metatheorie konzentrierten. Beschränkt sich aber ein
Sprachwissenschaftler auf
die Metatheorie, so übersieht er den doppelten Bezug der
linguistisehen
Begriffe, nämlich zur objektiven Realität und zur
Sprachtheorie, verliert er
die empirische Basis der Sprachwissenschaft und fetischisiert er seine
Theorien
unwillkürlich. Dann ist für ihn die innere
Widerspruchsfreiheit der Theorie
wichtiger als ihre Adäquatheit. Der Bezug der linguistisehen
Begriffe einschlieβlich
des Begriffs der sprachlichen Einheit zur objektiven Realität darf
aber nicht
negiert oder als nur zweitrangig angesehen werden. Lenin schrieb: „Die
menschlichen Begriffe sind subjektiv in ihrer Abstraktheit,
Losgelöstheit, aber
objektiv im Ganzen, im Prozeβ, im Ergebnis, in der Tendenz, im
Ursprung"
[77, 198].
Man muβ stets die
Phoneme, Morpheme, Wörter und
Konstruktionen in der Sprache selbst von den ihnen entsprechenden, sie
(wegen
der Unvollkommenheit jedes Analyseverfahrens) nur unvollständig
und vereinfacht
widerspiegelnden linguistischen Begriffen unterscheiden. Diese Begriffe
lassen
sich nicht auf Theorieelemente, die keinen objektiven Inhalt haben,
zurückführen.
Jakobson und Halle schrieben zutreffend: „Wenn man . . . bei der
Analyse das
Phonem und seine Komponenten im Gegensatz zum Laut als reine Erfindung
hinstellt, die kein notwendiges Korrelat in der konkreten Erfahrung
findet, so
werden die Ergebnisse einer solchen Analyse durch jene Annahme ad
absurdum geführt"
[74, 13].
Die sprachlichen
Einheiten, die miteinander zusammenhängen
und einander beeinflussen, bilden das Sprachsystem. Die einzelnen
Einheiten wie
das gesamte System einer Sprache existieren unabhängig vom
Forschersubjekt, und
diese Tatsache beweist hinreichend ihre objektive Realität, ihre
Materialität.
Geht man aber vom konventionalistischen Prinzip aus, so ist man bei der
Aufstellung linguistischer Theorien weitgehend der Willkür
ausgeliefert, nährt
man äquili-bristische Auffassungen, vernachlässigt man die
Analyse der
sprachlichen Realität, die zu erkennen der höchste und
einzige Zweck der
Linguistik ist.
I. P. Sussov. Konventionalistisches
Konzipieren der Realität sprachlicher Einheiten // Allgemeine
Sprachwissenschaft. Bd. III: Methoden sprachwissenschaftlicher
Forschung.